Das kompetente Kind
Jesper Juul, Reinbeck b. Hamburg 2003

Selbstgefühl-Selbstvertrauen - Von innen heraus beschrieben spricht das gesunde Selbstgefühl: „Ich bin in Ordnung und wertvoll, ganz allein deshalb, weil ich bin!“ (S 96)

Die Gründe, warum Kinder und jugendliche sich vollstopfen oder hungern, sind vielfältig, und darunter finden sich natürlich auch einige spezifische, umschriebene Probleme, die sie nicht allein lösen konnten. Aber ihr grösster Schmerz ist es, dass sie sich nicht „gesehen“ fühlen. Diesen Schmerz gab es lange bevor sie anfingen, Symptome zu entwickeln, die so deutlich waren, dass ihre Umgebung reagierte.

Statt die Symptome zu behandeln und/oder sich als Problemdetektiv zu betätigen, kann es sehr viel fruchtbarer sein (aber auch fordernder), von folgendem Bild auszugehen: Wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sich autodestruktiv verhalten, wissen wir, dass dieses ungesunde Benehmen nur einen Teil von ihnen repräsentiert. Es gibt noch den anderen Teil, der gesund und lebenskräftig ist. Gesund und lebenskräftig heisst auch: unvernünftig, irrational, überschäumend, wütend, unglücklich, kindisch, irritierend, herausfordern und bewegend. Im Konflikt zwischen dem gesunden und dem ungesunden Teil hat der gesunde und lebenskräftige vorläufig verloren.

Deshalb haben alle die gleiche Aufgabe: den gesunden und lebenskräftigen Teil wiederzufinden, offen für ihn zu sein und neugierig auf ihn und ihn in die Gemeinschaft einladen, in der er sich lange nicht willkommen gefühlt hat. Das ist das einzige, das aufs neue zu entwickeln. Wenn man sich statt dessen dafür entscheidet, den ungesunden Teil duchr Motivation, Zwang und Kritik zu bekämpfen, erreicht man nur, die Macht, die er sich genommen hat, zu begrenzen. An und für sich kann das wie ein Erfolg aussehe, aber es ist ein Erfolg mit hohen Kosten. Ein Mensch, der sich selbstzerstörerisch entwickelt hat, kennt sich nur so. Er hat den Kontak mit seinem gesunden, ursprünglichen Selbst verloren, aber das geschah ganz allmählich. Es fing an mit einem Erlebnis, bei dem sich der gesunden Tel in der Familie nicht willkommen fühlte, und kulminierte in einem Zustand, der auch von der Umgebung als Problem erlitten wird. (S 118/119)

Im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern sind für Gewalt immer die Erwachsenen verantwortlich. Das gilt nicht nur, wenn es Erwachsene sind, die die Gewalt ausüben, sondern auch, wenn Kinder oder Jugendliche gewalttätig auftreten – gegenüber ihren Eltern, Geschwistern, Kameraden, Fremden und dem Eigentum anderer oder dem der Gemeinschaft.

In der ganzen Welt stehen in diesen Jahren Politiker auf und verurteilen die Gewalt der Kinder und Jugendlichen, und zusammen mit den verletzten und empörten Eltern plädieren sie für strengere Strafen. Das ist nicht nur absurd – das ist irgendwie genauso verantwortungsvoll und genial, als wenn sie vorschlagen würden, die Haushaltsdefizite der Staaten durch das Monopolygeld der Kinder auszugleichen. (S 132/133)

Vermutlich nicht ganz zufällig gehören anscheinend tödliche oder lebensbedrohliche Erkrankungen zu den machtvollsten Isnspiratoren, die uns dazu bringen können, alle gute Erziehung in den Wind zu schreiben und buchstäblich von einer Sekunde zur anderen die grundlegenden Prioritäten unseres Daseins vom Fremdbestimmten hin zum Selbstbestimmten zu ändern.
(S 139)

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